Vladimir Propp: Morphologie des Märchens | Die 31 Funktionen

Das Märchen ist der Ursprung der phantastischen Literatur. Darum lässt sich am Märchen sozusagen in Reinform studieren, was gute Phantastik ausmacht. Seine Regeln galten vor Jahrtausenden am Lagerfeuer, und sie gelten prinzipiell noch heute. Grund genug, die alten Märchenbücher abzustauben und nach den Grundmustern des Erzählens zu forschen. Genau das tat der russische Linguist Vladimir Propp.

In seinem Buch “Morphologie des Märchens” von 1928 untersucht Propp die Tiefenstruktur von Märchen (genauer: von 100 russischen Zaubermärchen). Damit hat er nicht nur den Strukturalismus begründet, sondern auch Generationen von Autoren inspiriert.

Die deutsche Übersetzung bekommt man leider nur noch antiquarisch zu hohen Preisen. Macht aber nichts: Hier findest du die wichtigsten Inhalte.

Was Autoren mit den 31 Funktionen von Vladimir Propp anfangen können

Gerade als Phantastik- oder Horrorautor kannst du von dem Ansatz bestimmt einige Anregungen mitnehmen – vielleicht sogar mehr als von Campbells/Voglers allgegenwärtiger Heldenreise. Zwischen beiden Strukturprinzipien gibt es übrigens interessante Gemeinsamkeiten, aber das wäre Thema für einen eigenen Artikel. Die Literatur des übernatürlichen Grauens scheint jedenfalls enger mit Volksmärchen verwandt als mit Mythen – sie ist mehr Schneewittchen als Odysseus. Von E .T. A. Hoffmann (Der goldne Topf) bis Guillermo del Toro (Pan’s Labyrinth) und Neil Gaiman (Coraline; hier eine Analyse von Lessons from the Screenplay) finden sich immer wieder Strukturen, Figuren und Elemente, die direkt Volksmärchen entstammen. Auch J. K. Rowling soll (vermutlich unbewusst) für ihre Harry-Potter-Reihe Vladimir Propps Funktionen benutzt haben.

Vladimir Propp, 1928, Erscheinungsjahr der russischen Erstveröffentlichung von "Morphologie des Märchens"
Vladimir Propp, 1928 (Wikimedia Commons)

Natürlich müssen Autoren Vladimir Propps Struktur an ihre Geschichte und ihre Zeit anpassen. Die 31 Funktionen sind schließlich keine Formel, die man blind anwenden könnte. Betrachten wir sie besser (wie alle Tools in diesem Blog!) als Werkzeugkasten. Oder als Buffet, aus dem wir wählen, worauf wir Lust haben. 

Dann mal los.

Morphologie des Märchens: Die sieben archetypischen Handlungsträger

Vladimir Propp identifiziert neben der Plotstruktur auch die archetypischen Charaktere in Märchen. Nach seiner Zählung gibt es genau sieben.

1. Held

Einen Helden gibt es natürlich immer. Er vereitelt die Pläne des Schurken, löst Herausforderungen und heiratet am Ende die Prinzessin. Unterstützt wird er durch den Schenker und den Helfer.

2. Gegenspieler

Ebenfalls gesetzt ist der Schurke. Er schmiedet finstere Pläne gegen den Helden oder dessen Familie und ist damit der eigentliche Motor der Geschichte.

3. Schenker

Der Schenker gibt dem Helden ein helfendes Zaubermittel – manchmal nach einer vorherigen Prüfung – und überzeugt ihn davon, dass er zum Abenteuer aufbrechen muss. Oft ist es der Vater der Prinzessin.

4. Helfer

Der Helfer, meist ein magisches Wesen, unterstützt den Helden auf seiner Reise. Beispielsweise, indem er ihn bei einer Verfolgungsjagd rettet oder beim Lösen einer Aufgabe zur Seite steht.

5. Zarentochter

Die Zarentochter ist im Zaubermärchen vor allem der “Preis”, den der Held für das Erledigen des Schurken erhält. Außerdem hat sie die Funktion, den falschen Helden vom echten Helden zu unterscheiden. Die Heirat markiert das Ende der Geschichte.

6. Sender

Der Sender hat nur eine Funktion: Er schickt den Helden auf die Reise. 

7. Falscher Held

Der falsche Held zieht ebenfalls aus, um die Aufgabe zu lösen, scheitert jedoch. Er will den Ruhm des Helden einheimsen und die Prinzessin heiraten, obwohl er keinen Anspruch auf sie hat.

Vladimir Propp sieht die Figuren als Handlungsträger, nicht als eigenständige Charaktere mit komplexem Innenleben. Sie sind Rädchen im Plotgetriebe. Im schlimmsten Fall sind sie Stereotypen, im besten Fall gelungene Allegorien dieser oder jener Tugend oder Sünde.

Die Rollen können auch über mehrere Figuren verteilt sein, etwa wenn der Held den Schurken tötet und die Schwester des Schurken dessen Rolle übernimmt und den Helden jagt. Auch kann eine Figur mehr als eine Funktion einnehmen, etwa wenn ein Vater seinen Sohn auf die Heldenreise schickt und ihm ein Schwert mitgibt. Er ist dann Sender und Schenker zugleich. Manchmal gibt es auch mehrere Helfer. 

Wichtig: Wenn wir vielschichtige Charaktere erschaffen wollen, müssen wir den Archetypen individuelles Leben einhauchen. Außerdem ist es immer gut, die Erwartungen der Leser zu unterlaufen und vom Klischee abzuweichen.

Mehr Archetypen findest Du im Artikel über Archetypen von Antagonisten.

Gilbert Keith Chesterton Märchen sind mehr als wahr Zitat Storymonster Coraline

Die 31 Funktionen des Märchens nach Vladimir Propp

Vladimir Propp kennt 31 Funktionen, also typische Plotereignisse. Die initiale Situation zählt er nicht mit, sie ist als “0” nummeriert.

Ein Märchen muss nach Vladimir Propp nicht sämtliche 31 Funktionen aufweisen. Die Reihenfolge dagegen ist immer dieselbe, wir können also nicht beispielsweise Funktion 4 vor Funktion 3 erzählen.

0. Initiale Situation

Einführung des Helden, seines Umfelds, seiner Familie.

1. Ein Familienmitglied verlässt das Haus für einige Zeit.

Ein Familienmitglied (meist der Held oder eine Person, die er später retten muss) verlässt die sichere Heimat. Der Grund kann Arbeit, Reise oder Krieg sein.

2. Dem Helden wird ein Verbot erteilt.

Jemand verbietet dem Helden etwas (per Befehl, Erlass, Vorschrift, Gebot). Er warnt ihn davor, das Verbot zu verletzen. Sonst droht Unglück.

3. Das Verbot wird verletzt.

Der Held (oder jemand anderes) verletzt das Gebot. Das hat meist negative Konsequenzen. Als Folge tritt häufig der Schurke auf (nicht zwingend in direkter Konfrontation, eher lauernd oder manipulierend).

4. Der Gegenspieler versucht, Erkundigungen einzuziehen.

Der Schurke versucht, Erkundigungen über den Helden oder einen Gegenstand einzuziehen, beispielsweise bei einem Familienmitglied, um seinen finsteren Plan vorzubereiten. (Manchmal ist es umgekehrt: Der Held sucht Informationen.)

5. Der Gegenspieler erhält Informationen über sein Opfer.

Dem Schurken gelingt es, Informationen über ein potenzielles Opfer zu erhalten. Häufig ist eine Landkarte in die Handlung involviert.

6. Der Gegenspieler versucht, sein Opfer zu überlisten, um sich seiner selbst oder seines Besitzes zu ermächtigen.

Der Schurke versucht, sein Opfer zu überlisten. Sein Ziel: Das Opfer oder dessen Besitz an sich reißen. Seine Mittel: Verwandlung, Überredung, Zaubermittel, Betrug oder Gewalt.

7. Das Opfer fällt auf das Betrugsmanöver herein und hilft damit unfreiwillig dem Gegenspieler.

Das Opfer fällt auf die List herein: Es übertritt ein Verbot oder nimmt ein betrügerisches Angebot an. Der Schurke erhält dadurch Zugang zu Orten, die ihm vorher verwehrt waren (beispielsweise das Haus des Helden oder eine Schatzkammer).

8. Der böse Gegenspieler fügt einem Familienmitglied einen Verlust oder Schaden zu. 

Der Schurke schädigt oder verletzt ein Familienmitglied (Entführung, Diebstahl, Verderben der Ernte, Plünderung, Verbannung, Mord, Androhung einer erzwungenen Ehe, Folter etc.). 

ODER

Ein Familienmitglied entdeckt, dass ihm etwas fehlt (Zaubertrank, Artefakt), und möchte es haben.

9. Ein Unglück oder der Wunsch, etwas zu besitzen, werden verkündet, dem Helden wird eine Bitte bzw. ein Befehl übermittelt, man schickt ihn aus oder lässt ihn gehen. 

Der Held entdeckt den Betrug/die Täuschung des Schurken.

10. Der Sucher ist bereit bzw. entschließt sich zur Gegenhandlung.

Der Held entschließt sich, gegen den Schurken vorzugehen. Er schmiedet Pläne (einen magischen Gegenstand suchen, Gefangene befreien oder dergleichen). Das ist ein entscheidender Moment, der die künftigen Handlungen des Helden bestimmt.

11. Der Held verlässt das Haus.

Der Held verlässt seine Heimat, dieses Mal mit einem klaren Ziel. Hier beginnt sein Abenteuer erst richtig.

12. Der Held wird auf die Probe gestellt, ausgefragt, überfallen usw., wodurch der Erwerb des Zaubermittels oder des übernatürlichen Helfers eingeleitet wird.

Der Held begegnet dem (häufig magisch begabten) Helfer. Er muss eine Prüfung (Befragung, Kampf, Rätsel) bestehen.

13. Der Held reagiert auf die Handlungen des künftigen Schenkers.

Der Held antwortet auf die Aktionen seines künftigen Gebers. Er muss einen Test bestehen, beispielsweise Gefangene befreien oder zerstrittene Parteien versöhnen. 

14. Der Held gelangt in den Besitz des Zaubermittels.

Der Held erwirbt einen magischen Gegenstand als Belohnung für sein Handeln. Er kann es gekauft, getauscht, hergestellt, aus einer anderen Welt beschworen haben oder es wird ihm geschenkt.

15. Der Held wird zum Aufenthaltsort des gesuchten Gegenstandes gebracht, geführt oder getragen.

Der Held erreicht einen Ort, an dem sich ein bestimmter Gegenstand, beispielsweise das Zaubermittel oder eine dafür benötigte Zutat, befindet. 

16. Der Held und sein Gegner treten in einen direkten Zweikampf. 

Der Held und der Schurke treffen aufeinander und treten unmittelbar in Konflikt, entweder in einem direkten Kampf oder einen Wettkampf anderer Art.

17. Der Held wird gekennzeichnet.

Der Held wird auf die eine oder andere Weise markiert, erhält vielleicht eine charakteristische Narbe oder bekommt Schmuck wie einen Ring oder ein Halstuch.

18. Der Gegenspieler wird besiegt.

Der Held besiegt den Schurken. Er tötet ihn im Kampf, besiegt ihn im Wettkampf, verbannt ihn oder dergleichen. 

19. Das anfängliche Unglück wird gutgemacht bzw. der Mangel behoben. 

Die früheren Unglücke oder Probleme der Story werden gelöst, auf der Suche gefundene Gegenstände werden verteilt, ein Zauberbann gebrochen, Gefangene befreit.

20. Der Held kehrt zurück.

Der Held reist zurück nach Hause. 

21. Der Held wird verfolgt.

Der Held wird von einem Gegenspieler verfolgt, der ihn fangen, töten oder sogar fressen will. 

22. Der Held wird vor den Verfolgern gerettet.

Etwas hindert den Verfolger oder der Held macht eine Verwandlung durch, die ihn unkenntlich macht. Manchmal wird der Held von einem Dritte gerettet. 

23. Der Held gelangt unerkannt nach Hause zurück oder in ein anderes Land.

Der Held kommt an einem bestimmten Ort oder zuhause an, wird jedoch nicht erkannt oder nicht anerkannt.

24. Der falsche Held macht seine unrechtmäßigen Ansprüche geltend.

Ein falscher Held macht unbegründete Ansprüche geltend oder täuscht jemanden. Der falsche Held kann der Schurke sein, ein Handlanger des Schurken oder eine dritte Partei. 

25. Dem Helden wird eine schwere Aufgabe gestellt. 

Der Held steht vor einer erneuten Prüfung – etwa einem Rätsel oder einer Probe seiner Ausdauer. 

26. Die Aufgabe wird gelöst.

Der Held erfüllt eine schwierige Aufgabe. 

27. Der Held wird erkannt.

Der Held wird wiedererkannt – meistens anhand seiner vorherigen Markierung. 

28. Der falsche Held, Gegenspieler oder Schadenstifter wird entlarvt.

Der falsche Held oder Schurke wird vor aller Augen aufgedeckt. 

29. Der Held erhält ein anderes Aussehen.

Der Held gewinnt eine neue Erscheinung. Beispielsweise kann er auf magische Weise ein Körperteil zurückerhalten, das er zuvor während seiner Markierung verloren hat. In jedem Fall sieht er nachher besser aus als vorher. 

30. Der Feind wird bestraft.

Der Schurke erleidet die Konsequenzen seiner Handlungen. Durch die Hand des Helden, die seiner Opfer oder als unmittelbares Resultat seines Betrugs.

31. Der Held vermählt sich und besteigt den Thron.

Der Held heiratet und wird von der Familie oder Gemeinschaft belohnt. Oft besteigt er den Thron. 

© 2020 Storymonster

Titelbild: Storymonster unter Verwendung eines gemeinfreien Fotos (Canva)

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