MICE Quotient: Der einfache Weg zur spannenden Story

Orson Scott Card: Characters & Viewpoint
Characters & Viewpoint: Tipps für Autoren

Der vielleicht beste Schreibratgeber ist Characters and Viewpoint von Orson Scott Card, dem genialen Autor von Ender’s Game.

In dem Buch beschreibt Card eine einfache und effektive Methode, mit der Du Deine Geschichte besser verstehen, strukturieren und schreiben kannst – den „MICE Quotient“.

MICE steht für „Milieu, Idea, Character, Event“ – die vier zentralen Elemente jeder Geschichte.

Der MICE Quotient ist für Dich ideal, wenn Du keine Lust auf eine komplizierte Plotsruktur hast, aber trotzdem ein stimmiges Buch mit einem spannenden Handlungsbogen schreiben willst.

Gerade auch für Kurzgeschichten ist der MICE Quotient ein starkes Tool.

 

Mit dem MICE Quotient kannst Du die wichtigsten konzeptionellen Fragen Deiner Story beantworten:

Welche Ideen passen in die Geschichte, welche nicht?

Was passiert am Anfang, in der Mitte, am Ende?

Wann soll ich eine Szene beginnen und enden lassen?

Wie kann ich einzelne Szenen miteinander logisch verknüpfen?

Wie stark soll ich einzelne Figuren charakterisieren?

MICE Quotient - Infografik deutsch - Mary Robinette Kowal - Orson Scott Card - Storymonster

Was ist der MICE Quotient?

Für Orson Scott Card besteht jede Geschichte aus vier Faktoren: Milieu (Setting), Idee (Frage/Antwort), Charakter und Ereignis. In manchen Storys geht es vor allem um die Figurenentwicklung (Charakter), in anderen steht der Kampf gegen äußere Hindernisse im Fokus (Ereignis).

Kurzgeschichten basieren meist klar auf einem der Elemente. Längere Geschichten, etwa Romane, enthalten alle. Beispielsweise ist Charakter A ein Teil des Milieus von Charakter B, die zentrale Idee kann etwas über das Ereignis enthüllen und so weiter. Jedoch dominiert immer eines der Elemente die Story. Und auch in jeder Szene oder Sequenz dominiert ein Element.

MICE Quotient - Zitat von Orson Scott Card

MICE Quotient: Milieu-Story

„Milieu“ ist die Welt um den Charakter herum – Landschaft, Gegenstände, Kultur, Gesetze, Wetter, Verkehrsregeln, Gerüche …

Das Setting ist in Storys unterschiedlich stark ausgeprägt, es kann bloß anskizziert sein oder aber die gesamte Geschichte bestimmen. In letzterem Fall ist es eine Milieu-Story.

Ein Beispiel ist Gullivers Reisen: Es geht weniger um Plot oder Charaktere als darum, eine fremde Welt zu entdecken, ihre Bräuche und Einwohner.

Häufig gibt es längere Passagen mit Beschreibungen der Landschaft, Lieder, Religionen, alltäglichen Verrichtungen. Klar: Dieser Storytyp ist vor allem in Science-Fiction, Fantasy und historischen Romanen anzutreffen.

Struktur der Milieu-Story

Plotstruktur 

  • Anfang. Die Story beginnt, wenn Dein Hauptcharakter eine fremde Welt betritt.
  • Mitte. Finde einen Grund, warum der Charakter die Welt durchreisen muss und zeige dem      Leser die spannendsten Orte, Kulturen etc.
  • Ende. Die Story endet, wenn alles erforscht ist und der Charakter die Welt verlässt.

Charakterisierung

Weniger ist mehr. Der Charakter steht stellvertretend für den Leser. Machst du ihn oder sie zu individuell, dann lenkst du von der Hauptsache ab – dem Milieu. Leser sind vor allem an der fremden Welt interessiert. Die Charaktere reagieren so „normal“ wie möglich auf die Ereignisse.

Mischformen

Reine Milieu-Storys sind selten. Meist sind andere Faktoren mit im Spiel, beispielsweise eine Idee wie in Herr der Ringe (Wie wird Frodo den Ring wieder los?). In diesem Fall kann der Charakter durchaus Eigenheiten haben. Die sind aber als Erweiterung oder Ergänzung des Milieus zu verstehen: Nicht die Individualität der Charaktere steht im Vordergrund, sondern die typischen Eigenschaften ihrer Klasse oder Kultur. Es sind stereotype Repräsentanten ihrer Lebenswelt.

Beispiele

J. R. R. Tolkien - Der Herr der Ringe - MICE QuotientMICE Quotient: Der einfache Weg zur spannenden Story  Frank Herbert - Der Wüstenplanet - MICE QuotientMICE Quotient: Der einfache Weg zur spannenden Story

MICE Quotient: Idee-Story

„Idee“ ist eine unglückliche Bezeichnung. Die Autorin Mary Robinette Kowal nennt den MICE Quotient darum „MACE Quotient“, das A steht für Ask/Answer. Noch passender scheint mir allerdings der Begriff „Lösung“. Wie auch immer: Idee-Storys beginnen mit einer Frage. Es wird beispielsweise eine Leiche gefunden und nun geht es darum herauszufinden, wer den Mord wann wie verübt hat. Auch Heist-Geschichten folgen dem Idee-Muster: Die Helden stehen zu Beginn vor einem Problem, sie wollen beispielsweise eine Bank ausrauben. Sie entwickeln einen Plan, und wir finden beim Lesen heraus, ob der Plan die richtige „Antwort“ auf das Problem gibt.

Struktur der Idee-Story

Plotstruktur

Anfang: Werfe eine Frage auf, für die Dein Hauptcharakter eine Lösung finden muss.
Mitte: Beschreibe, wie der Hauptcharakter das Problem zu lösen versucht.
Ende: Die Story endet, wenn die Frage beantwortet ist.

Charakterisierung

Idee-Storys sind häufig reine Mystery- oder Krimigeschichten und brauchen nicht zwingend ausgefeilte Charaktere. Die meisten Autoren fügen den Figuren lediglich kleine Merkmale hinzu, um sie lebendiger zu machen, insbesondere den ermittelnden Detective.

Zwar gibt es auch Storys, beispielsweise von Raymond Chandler, in denen die Person des Detectives differenzierter ist und den Handlungsverlauf mitbestimmt. Aber diese Figuren machen selten eine Wandlung durch – der Plot enthüllt lediglich, wer sie bereits sind. Das Wesen des Detectives ist sozusagen Teil der übergreifenden Storyfrage.

Das hat für Autoren den Vorteil, dass sie Serien entwickeln können, die auf derselben Hauptfigur beruhen. Wäre ein „Columbo“ denkbar, der sich in jeder Folge oder Staffel verändert? Eben. Figuren stehen für Ideen oder decken Geheimnisse auf, darum reichen hier Stereotypen häufig aus.

Beispiele

Sherlock Holmes - MICE QuotientMICE Quotient: Der einfache Weg zur spannenden Story   Ocean's Eleven - MICE QuotientMICE Quotient: Der einfache Weg zur spannenden Story

MICE Quotient: Charakter-Story

Hier dreht sich alles um die Wandlung von Figuren. Deine Hauptfigur will ihre Rolle im Leben ändern. Was bedeutet „Rolle“? Die Beziehungen der Figur zu anderen Menschen und der Gesellschaft als solcher. Sie ist Mutter oder Vater für die Kinder, Mädchen für alles im Job, Geliebte/r für die Affäre, Kassenwart im Verein; sie hat Interessen und Leidenschaften, Ziele und verborgene Wünsche … Wenn eine dieser Rollen unerträglich wird, beginnt die Charakter-Story. Ein grausamer Ehemann, ein Albtraum-Job, der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben – es muss etwas passieren.

Manche Hauptfiguren verlassen schon früh ihre gewohnte Welt und hadern ab dem zweiten Akt nur noch damit, eine neue zu finden oder in dieser zurechtzukommen. Andere Storys handeln ausschließlich von den Versuchen, aus den alten Bindungen auszubrechen.

Struktur der Charakter-Story

Plotstruktur

Anfang: Dein Hauptcharakter ist todunglücklich mit seiner Rolle in der Gesellschaft und will das ändern.

Mitte: Der Charakter kämpft mit sich und seinem Umfeld um sein neues Selbst.

Ende: Er findet eine neue Rolle, macht seinen Frieden mit der alten oder verzweifelt.

Charakterisierung

Keine Abkürzungen! Der Leser will voll ausgeprägte Hauptfiguren, möchte deren alte Rolle verstehen und die Notwendigkeit des Wandels hautnah erfahren. Nebenfiguren können weniger stark ausgemalt sein.

Beispiele
Fjodor Dostojewski - Schuld und Sühne - MICE QuotientMICE Quotient: Der einfache Weg zur spannenden Story   Fjodor Dostojewski - Schuld und Sühne - MICE QuotientMICE Quotient: Der einfache Weg zur spannenden Story

MICE Quotient: Ereignis-Story

In jeder Story “passiert” etwas. Ereignis-Story aber heißt: Die Welt ist aus den Fugen, das Gleichgewicht gestört. Beispielsweise wenn ein Verbrechen nicht aufgeklärt wird, wie in Der Graf von Monte Christo oder König Ödipus. Wenn ein Usurpator die Macht an sich gerissen hat, wie in Macbeth. Oder eine böse Macht die Gemeinschaft angreift an, etwa Sauron aus Herr der Ringe. Oder eine Liebe sein soll aber nicht sein darf, wie in Romeo und Julia. In jedem dieser Szenarien kämpft der Held darum, die Ordnung wiederherzustellen oder eine neue zu etablieren.

„Ich denke, die Event-Story (…) könnte tatsächlich der Grund dafür sein, dass überhaupt Storys existieren. Sie stammt aus unserem Bedürfnis, den Ereignissen um uns herum einen Sinn zu verleihen. Die Event-Story beginnt mit der Annahme, dass eine Art von Ordnung in der Welt existieren sollte, und dass wir an Geschichten glauben, hilft uns dabei, auch in der Realität Ordnung herzustellen.“ – Orson Scott Card

Struktur der Ereignis-Story

Plotstruktur

Anfang: Die Welt gerät aus den Fugen.
Mitte: Dein Hauptcharakter muss die Ordnung wiederherstellen.
Ende: Er schafft es – oder nicht.

Charakterisierung

Wie tief Du die Figuren ausgestaltest, bleibt Dir überlassen. Es können reich illustrierte Charakteren oder auch nur Stereotypen sein.

Beispiele 

Godzilla - MICE QuotientMICE Quotient: Der einfache Weg zur spannenden Story     Independence Day - MICE QuotientMICE Quotient: Der einfache Weg zur spannenden Story

Wie Du die MICE-Elemente verknüpfst

Bei Kurzgeschichten (3.000-10.000 Wörter) lässt sich der MICE Quotient einfach anwenden: Es genügt ein einziges Element. Bei längeren Geschichten dagegen gibt es mehrere Elemente. Wie können wir sie miteinander verketten?

Um dieses Problem zu lösen, hat Mary Robinette Kowal das Konzept von Orson Scott Card weiterentwickelt. Kowal vergleicht das Vorgehen mit dem Schreiben von HTML-Codes.

Dort gilt die Regel: Last in, first out. Löse die verschiedenen Konflikte, Nebenhandlungen usw. logisch auf – in der umgekehrten Reihenfolge, in der Du sie eingeführt hast.

Du schreibst eine Charakter-Story, in der ein Milieu-Element vorkommt? Dann wird es dem Leser logischer erscheinen, wenn Du zuerst das Milieu-Element auflöst und dann die Charakter-Story abschließt: <Char> <Mil> </Mil> </Char>

Beispiel: Der Zauberer von Oz

<Charakter> Dorothy ist unzufrieden mit ihrem Leben.

<Ereignis> Sie läuft von zuhause weg.

<Milieu> Sie kommt nach Oz.

<Idee> Wie kommt sie wieder nach Hause?

Die Geschichte entfaltet sich.

</Idee> „Du hattest die Kraft die ganze Zeit in dir selbst.“

</Milieu> Dorothy verlässt Oz mit Hilfe ihrer magischen Schuhe.

</Ereignis> Sie wacht zuhause in Kansas auf.

</Charakter> „Nirgendwo ist es schöner als zuhause!“

Den MICE Quotient jetzt anwenden

Zum Abschluss noch eine Schreibaufgabe, die Mary Robinette Kowal entwickelt hat.

  1. Wähle ein MICE-Element (Milieu, Idee, Charakter oder Ereignis).
  2. Beschreibe in drei Sätzen, wie Deine Haupthandlung das Element nutzen soll.
  3. Wähle ein zweites Element.
  4. Beschreibe in drei Sätzen, wie Deine Nebenhandlung das Element nutzen soll.
  5. Verknüpfe beides zu einer aus sechs Sätzen bestehenden Outline für Deine Story.
  6. Verknüpfe die Sätze in einer anderen Reihenfolge – tausche Nebenhandlungs-Element mit Haupthandlungs-Element.

Macht es Deine Story stärker? Entdeckst Du neue Möglichkeiten und Aspekte, die Dir bisher entgangen sind?

Sehr zu empfehlen und Hauptquelle dieses Beitrags: Die Folge über den MICE Quotient im Podcast Writing Excuses.

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Titelbild: Pexels

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