Deep Point of View (Deep POV) hebt die Distanz zwischen Leser und Figur auf. Praktisch alle Bestseller-Autoren und Drehbuchautoren nutzen die Erzähltechnik, um Szenen persönlicher und fesselnder zu schildern.
Der Schlüssel dazu ist eine radikal subjektive Erzählperspektive: Erfahrungen, Gefühle und Gedanken eines einzigen Charakters prägen die Szene oder das gesamte Buch. Dabei brauchen wir nicht zwingend einen Ich-Erzähler, Deep POV lässt sich auch mit einem personalen Erzähler anwenden.
Was ist Deep Point of View (Deep POV)?
„Deep Point of View“ (Deep POV) können wir in etwa übersetzen mit „Tiefenperspektive“. Man spricht auch von „Interne dritte Person“, „Autodiegetischer Erzähler“ und „Third Person Limited“.
Alle Begriffe meinen dasselbe: Du erzählst jede Szene aus der Perspektive eines einzigen Charakters. Nur dieser Fokus-Charakter öffnet Lesern den Zugang zur Story. Was er nicht sieht, hört oder denkt, existiert nicht.
So entsteht beim Leser das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein. Die Illusion fühlt sich real an.
Als Autoren verzichten wir im Deep POV auf eine Erzählerstimme und verschwinden vollkommen hinter unserem Text. Wir vermeiden alle Wörter und Phrasen, die unsere Leser aus der Perspektive des Charakters hinausziehen. Nichts darf daran erinnern, dass ein Autor die Geschichte verfasst hat.
Sechs Tipps für das Schreiben von Deep POV
Damit Leser die Geschichte aus der Perspektive eines einzelnen Charakters erleben, müssen wir unsere Fokus-Figur genau kennen. Nur dann können wir den persönlichen Blickwinkel authentisch gestalten. Die Basis für Deep POV bildet also die Entwicklung des Charakters durch Brainstorming, Mindmapping, Fragebögen, fiktive Interviews oder dergleichen.
Kennen wir unseren Charakter, geht es ans Schreiben. Dabei gilt es sechs Punkte zu beachten.
1. Das Wissen des Charakters beschränken
Jeder von uns sieht nur einen Ausschnitt der Welt. Unser Bewusstsein ist eine Taschenlampe, die Menschen und Gegenstände aus dem Nichtwissen herausschält. So ist es auch bei deinem Fokus-Charakter: Er ist nicht allwissend, sondern in seiner spezifischen Lebenswelt befangen. Die Grenzen seiner Wahrnehmung sind die Grenzen unseres Erzählens.
Wenn wir Informationen oder Ereignisse beschreiben möchten, die unser Charakter nicht kennt, müssen wir indirekt vorgehen. Beispielsweise indem wir einen zweiten Charakter einführen, der die entsprechenden Infos liefert.
2. Filterwörter vermeiden
Filterwörter machen den Autor sichtbar. Der Leser bemerkt das Baugerüst neben dem Fantasiepalast. Wir verzichten darum auf Phrasen wie „Er fragte sich, ob …“ oder „…, dachte sie“.
Wenn wir im echten Leben über etwas nachdenken, sagen wir uns ja auch nicht ständig: „Das denke ich gerade.“ Und wenn wir sprechen, reflektieren wir nicht auf den Umstand, dass wir sprechen – sondern konzentrieren uns auf das, was wir sagen wollen. Ohne Reflexion und doppelten Boden, ganz im Hier und Jetzt.
Diese Beispiele verdeutlichen den Unterschied zwischen Filterwörtern und Deep POV.
1. Ohne Deep POV
In der Stille knarrte die Schranktür. Ben wusste, dass es das Nachtmonster war. Er spürte sein Herz hämmern, verkroch sich noch tiefer unter die Bettdecke und hielt den Atem an. Nicht hinsehen, nur nicht hinsehen … Er fragte sich, wann seine Eltern nach Hause kommen würden. Wenn er nur sein Handy hätte, dachte er, dann könnte er sofort Hilfe rufen!
Ben hob die Decke einige Zentimeter an und lugte darunter hervor. Kühle Luft drang durch den Spalt. Dort sah er das Licht blinken, kaum eine Armlänge entfernt. Er begriff, dass er sein Handy mit einer schnellen Bewegung erreichen könnte und …
2. Mit Deep POV
In der Stille knarrte die Schranktür. Das Nachtmonster! Bens Herz hämmerte. Er verkroch sich tiefer unter der Bettdecke und hielt den Atem an. Nicht hinsehen, nur nicht hinsehen … Ob seine Eltern schon schliefen? Hätte er nur sein Handy, dann könnte er Hilfe rufen!
Ben hob die Decke eine Handbreit an. Kühle Luft drang durch den Spalt. Dort blinkte das Licht, kaum eine Armlänge entfernt. Er müsste nur zugreifen und …
Vergleich der Beispiele
Beide Texte erzählen dasselbe Ereignis. Was ist anders? Im zweiten Beispiel streichen wir überflüssige Phrasen: „Er fragte sich …“, „Er spürte …“, „sah er“, „Er begriff …“. Wir ersetzen unpersönliche Begriffe wie „einige Zentimeter“ durch „eine Handbreit“.
Außerdem zeigen wir Bens Körper nicht von außen, sondern sind in ihm drin – beispielswese erwähnen wir nicht, dass Ben unter der Bettdecke hervorlugt.
Nicht zuletzt zeigen wir Bens Angst, statt nur davon zu erzählen: „Vor Angst wurde Ben übel“ – „Übelkeit schnürte Ben den Hals zu“. Zur Schreibtechnik „Zeigen, nicht erzählen“ gleich mehr.
3. Inquit-Formeln reduzieren
Inquit-Formeln zeigen an, welcher Charakter spricht. Auch sie enthüllen den Autor hinter der Geschichte. Viele Wendungen sind ohnehin „unsichtbar“ – so gewöhnlich, dass Leser sie übersehen, beispielsweise „sagte er/sie“, „fragte er/sie“ oder „antwortete er/sie“. Andere wiederum sind überflüssig, weil sie eine Stimmung ausdrücken, die bereits durch das Gesagte transportiert wird („… schimpfte er“).
Die Lösung ist einfach: Wir verzichten auf Inquit-Formeln und lassen den Dialog für sich stehen. Wenn unklar ist, wer spricht, verwenden wir „unsichtbare“ Wendungen. Noch einmal zwei Beispiele.
1. Ohne Deep POV
Endlich nahm sein Vater ab.
„Hi Ben“, rief er mit rauer Stimme. Die Musik im Hintergrund war so laut, dass Ben ihn kaum verstehen konnte.
„Papa, wann kommt ihr heim?“, flüsterte Ben.
„Ben? Ben, du musst lauter reden, ich verstehe nichts“, sagte sein Vater.
Wie sollte er lauter reden, wenn das Nachtmonster auf jedes seiner Geräusche lauerte?
„Papa, hier ist was in meinem Zimmer …“, sagte Ben etwas lauter.
„Du musst lauter reden“, wiederholte sein Vater.
„Das Nachtmonster, das Nachtmonster will meine Augen!“, schrie Ben verzweifelt.
2. Mit Deep POV
Endlich nahm sein Vater ab.
„Hallo Ben. Ist alles in Ordnung?“ Die Musik im Hintergrund war so laut, dass Ben ihn kaum verstehen konnte.
„Papa, wann kommt ihr heim?“
„Ben? Ben, du musst lauter reden, ich verstehe nichts.“
Wie sollte er lauter reden, wenn das Nachtmonster auf jedes seiner Geräusche lauerte?
„Papa, hier ist was in meinem Zimmer, ich …“
„Lauter, du musst lauter reden.“
Da brach es aus Ben heraus: „Das Nachtmonster, das Nachtmonster will meine Augen!“
Vergleich der Beispiele
Im zweiten Beispiel verzichten wir auf die Inquit-Formeln. Das ist eleganter und erzeugt eine intensivere Stimmung. Dennoch weiß der Leser jederzeit, wer spricht.
4. Zeigen statt erzählen
Die Regel „Show, don‘t tell“ gilt nicht immer und überall. Oft erzählen wir besser eine Szene, als sie zu zeigen – vor allem, wenn wir konfliktarme Situationen oder lange Zeiträume überbrücken wollen. Wenn es jedoch darum geht, eine gute Beschreibung zu liefern, ist das Zeigen deutlich überlegen.
Wie der Fokus-Charakter eine Situation sieht und erlebt, ist Ausdruck seiner Weltsicht. Ein Schlachthof beispielsweise erscheint einem Tierschützer radikal anders als einem Schlachter.
In der Beschreibung zeigt sich die Haltung des Charakters – daran, welche Details der Welt ihm wichtig sind und wie er sie bewertet.
5. Mit der Stimme des Charakters sprechen
Deep POV bedeutet darüber hinaus, dem Fokus-Charakter eine eigene Stimme zu verleihen. Dazu gehört unter anderem ein Set an Lieblingsvokabeln oder Redewendungen und die Wahl spezifischer Metaphern.
Worin kennt sich der Charakter besonders gut aus? Welchen Bildungs- und Wissensstand hat er oder sie? Welche Ideale und Überzeugungen prägen seine Weltsicht? Das alles fließt subtil in die Stimme des Charakters ein und macht sie unverwechselbar.
6. Passivsätze vermeiden
Es ist meistens eine gute Idee, Sätze aktiv statt passiv zu formulieren. Ganz besonders trifft das auf Deep POV zu. Passivsätze zeigen an, dass jemand reagiert, statt zu handeln. Dadurch fallen wir aus der Perspektive des Charakters heraus. Ein Beispiel.
„Sein linkes Auge wurde vom Nachtmonster herausgerissen.“
In diesem Satz fungiert das linke Auge des Charakters als Subjekt, nicht der Charakter selbst. Wie stellen wir den Charakter wieder in den Mittelpunkt der Handlung? Indem wir den Satz aktiv umformulieren.
„Das Nachtmonster riss sein linkes Auge heraus.“
Der zweite Satz hat deutlich mehr Kraft und nimmt die Perspektive des Charakters ein.
Deep POV – Werkzeug, nicht Gesetz
Deep POV wirkt unmittelbar und persönlich. Die Schreibtechnik wirft den Leser in die Welt eines Charakters und zwingt ihm dessen subjektive Sicht der Dinge auf. Wir versetzen uns beim Schreiben ganz in einen Charakter. Seine Erfahrungen und Gefühle sind unsere Erfahrungen und Gefühle. Über alles andere müssen wir schweigen.
Manche Geschichten verlangen jedoch eine weniger einschränkende Vorgehensweise. Und manche Autoren sträuben sich gegen Deep POV, weil sie um ihre kreative Freiheit fürchten. Das ist völlig okay.
Die richtige Erzählperspektive finden
Deep POV ist nur eine von mehreren Perspektiven, die wir beim Schreiben einnehmen können. Es gibt Geschichten, die nur mit allwissendem Erzähler funktionieren. Und es gibt Geschichten, die vor der Innenwelt der Figuren haltmachen und dennoch – oder gerade deswegen – hochemotional sind. Beispielsweise „Kein Land für alte Männer“ und „Die Straße“ von Cormack McCarthy.
Jeder Stoff verlangt das passende Werkzeug. Das eben ist Deep POV – ein Werkzeug, kein Gesetz. Aber eines der wirksamsten Werkzeuge, um Illusionen real erscheinen zu lassen.
© 2018 Storymonster
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Sehr gut. Kurz, knackig und informativ
Danke!