Mark Fisher: Das Seltsame und das Gespenstische

Das Nachdenken über Horror und Phantastik steht bis heute im Schatten von Sigmund Freuds Schrift Das Unheimliche von 1919. So großartig dieser Essay auch ist: Sein psychoanalytischer Überbau mag nicht mehr recht ins 21. Jahrhundert passen. Ein neues Interpretationsschema lieferte kurz vor seinem Suizid im Jahr 2017 der englische Autor und Kulturtheoretiker Mark Fisher mit seinem Buch Das Seltsame und das Gespenstische.

Freuds Essay „Das Unheimliche“

Sigmund Freud begreift das Unheimliche in seinem Wortsinn als das Unvertraute im Vertrauten, als die Negation des Heimischen in diesem selbst. Das Unheimliche ist „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“

Das Unheimliche bringt längst Vergrabenes wieder ans Licht: verdrängte Erinnerungen und das magische Denken unserer Kindheit. Und was verdrängt wurde, erzeugt Angst.

  1. Wiederkehr des Verdrängten. In E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ deutet Freud das Herausreißen der Augen als verdrängte Kastrationsangst und den Sandmann als dämonisierten Vater. Die Geschichte ruft also die Schrecken der Kindheit wach, die – ins Unbewusste verdrängt – noch immer gespenstisch in uns wirken und beim Lesen abgerufen werden.
  2. Relikte eines animistischen Weltbilds. Animistisch ist beispielsweise die Vorstellung, der „böse Blick“ oder ein bloßer Wunsch könnten töten. Zwar haben wir diesen Kinderglauben überwunden, doch manchmal scheint er sich dennoch zu bestätigen. Ein Patient Freuds wünschte sich etwa, seinen Feind möge der Schlag treffen, und dieser erlitt tatsächlich wenige Tage später einen Schlaganfall. Das Wünschen des Patienten schien eine unheimliche Macht zu entfalten.

Freud gibt eine Menge spannender Beispiele und plausibler Erklärungen für das Gefühl des Unheimlichen. Gerade auch für Spannungsautoren ist sein Essay auch heute noch Pflichtlektüre. Doch Freuds Theorie bleibt in sein gesamtes Denkgebäude eingefasst – eben die Psychoanalyse. Zeitgemäßer und differenzierter deutet Mark Fisher das Unheimliche.

Mark Fisher „Das Seltsame und das Gespenstische“

Fisher unterteilt das Unheimliche in das „Seltsame“ (The Weird) und das „Gespenstische“ (The Eerie). Die vielleicht wichtigste Neuerung: Fisher setzt die Faszination des Fremden als Kernreiz unheimlicher Geschichten und befreit damit die Rezeption vom Fokus auf die Angst. „Der Reiz des Seltsamen und Gespenstischen gründet nicht darin, dass wir »genießen, was wir fürchten«. Vielmehr geht es um eine Faszination für das Außen, für das, was jenseits der üblichen Wahrnehmung, Erkenntnis oder Erfahrung liegt.“

Eskapistische Fantasien lassen uns Horror lieben, nicht Angstlust. „Es ist diese Entlassung aus dem Alltäglichen, diese Flucht aus dem, was wir gewöhnlich für die Realität halten, die ein Stück weit den eigentümlichen Reiz des Gespenstischen erklärt.“

Für Fisher gewinnen Horror und Phantastik damit eine positive, ja utopische Qualität: Das Fremde beunruhigt zwar („es gibt mehr als genug Schrecken da draußen“). Aber es fasziniert auch – weil es einen Ausweg aus dem (für Fisher: durch den Spätkapitalismus vergifteten) Alltag verspricht. Seltsame und gespenstische Plätze sind Sehnsuchtsorte.

Die Spannung zwischen der normalen und der phantastischen Welt bilden denn auch den Kern der besten Geschichten des Genres, etwa bei H.P. Lovecraft: „Die Kraft von Lovecrafts Erzählungen hängt von der Differenz zwischen dem Irdisch-Empirischen und dem Außen ab.“ Eine besondere Rolle kommt darum – nicht nur bei Lovecraft – Bildern von Schwellen, Türen, Tunneln und dergleichen zu. Unheimliche Phantastik beschäftigt sich obsessiv mit allem, was einen Über- oder Durchgang ins Jenseitige verheißt.

Mark Fisher - Das Seltsame und das Gespenstische - Zitat

Das Seltsame (The Weird) nach Mark Fisher

Ein Gefühl des Seltsamen entsteht immer dann, wenn etwas nicht zusammenpasst – durch die „Anwesenheit dessen, was nicht dazugehört“, nicht in unser gewohntes Bezugssystem passt.

Paradebeispiele sind Werke der Montagetechnik und Groteske: Hier werden Dinge kombiniert, die nicht zusammenpassen. Wenn beispielsweise in einem Gemälde ein Menschenkopf auf einem Pflanzenstängel thront, dann „gehört er nicht dazu“ und erzeugt das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Er stört die symbolische Ordnung der Dinge.

Besonders drastisch zeigt sich das Seltsame, wenn sich Fiktion und Realität nicht klar unterscheiden lassen, wie in David Lynchs Inland Empire oder Rainer Werner Fassbinders Welt am Draht.

Das Gespenstische (The Eerie) nach Mark Fisher

Das Gespenstische ist der Gegenbegriff zum Seltsamen: „Das Gespenstische entsteht durch den Ausfall der Präsenz oder den Ausfall der Absenz: Das Gefühl des Gespenstischen stellt sich dann ein, wenn entweder etwas da ist, wo nichts sein sollte, oder wenn nichts da ist, wo doch etwas sein sollte.“

Anders als das Seltsame enthält das Gespenstische immer eine gewisse spekulative Spannung. Das zeigt beispielhaft die englische Wendung „Eerie Cry“ – der gespenstische Schrei eines Tieres, bei dem man nicht weiß, wo und was das Tier ist.

Es kann sich auch um eine Abwesenheit von Gründen oder Motivationen handeln, wie in Daphne Du Mauriers Erzählung Die Vögel – dort bleibt unklar, warum die Vögel überhaupt Menschen attackieren. Oder um die Abwesenheit von Menschen: verlassene Landschaften, Ruinen oder auch Stonehenge.

Gespenstische Mächte

Das wirkliche Rätsel des Gespenstischen ist laut Fisher aber nicht bloße Präsenz/Absenz von etwas, sondern dessen tatsächliche „Wirk- und Handelsmacht“.

Beim Ausfall der Absenz geht es um die Art des Subjekts: Warum wurde Stonehenge erbaut? Wer waren die Baumeister? Und was wollten sie erreichen?

Beim Ausfall der Präsenz ist nicht einmal klar, ob überhaupt ein Subjekt zielgerichtet handelt. Dinge bewegen sich (scheinbar) von selbst, etwa Vorhänge, die ein Windhauch bauscht.

Für Fisher zählt zu diesen Phänomenen auch das „Gespenst des Kapitals“, dessen unsichtbare Macht quasi aus dem Nichts neue Produktionsanlagen, Gebäude oder Infrastrukturen schafft.

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