Zu Teil 1 des Artikels geht es hier: Horror lieben. Lust auf Nacht und Angst.
Befreiung: Die Unschuld des Bösen
Als Kinder hatten wir Spaß an merkwürdigen Dingen. Wir haben Regenwürmer zerteilt, uns in Schlammpfützen gewälzt und bei jeder Gelegenheit unseren Unmut herausgebrüllt. Das haben sie uns ausgetrieben. Eltern und Lehrer zwangen uns mit Zuckerbrot und Peitsche gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten auf. In so jungen Jahren, dass wir uns kaum daran erinnern können.
Aus den Verboten entstand das, was Sigmund Freud das „Über-Ich“ nennt. Jeder Erwachsene hat einen Polizisten im Kopf, der ständig mit seinem Schlagstock fuchtelt und droht: „Tu dies nicht, tu das nicht.“ Aber die alten Freuden sind nicht tot. Sie schlafen nur – im Unterbewussten. Horror lässt uns die Fesseln der Kultur abstreifen. Horror hebt Tabus und Verbote auf. Horror feiert, was normalerweise soziale Verbannung oder Gefängnis zur Folge hat. Horror flüstert Dir zu: „Der wahre Terror sind die Zwänge des Alltags. Die Gesellschaft, die Dich daran hindert, Deine Leidenschaften auszuleben.“
Kein Wunder, dass gewisse Horror-Subgenres gesellschaftlich nicht akzeptiert sind. Das können sie gar nicht. Splatterpunk & Co. sind in ihrem Kern antigesellschaftlich. Viele Storys zeigen sogar direkt Repräsentanten der Gesellschaft als die eigentlich Bösen. Die Fanatiker in Silent Hill beispielsweise. Oder die nach außen hin normale, tatsächlich aber sadistische Familie in Jack Ketchums „The Woman“.
Für Dich als Autor heißt das: Schreibe mutig. Schreibe radikal. Entdecke die infantilen Freuden wieder und mache sie für Deine Leser lebendig. Das heißt auch, dass Du gegen Deine eigene Konditionierung anschreiben musst.
Erst wenn Du Dich selbst von den gesellschaftlichen Zwängen befreist, kannst Du auch Deine Leser befreien. Und ihnen das gute Gefühl geben, dass es okay ist, im Schlamm zu suhlen.
Wenigstens solange, bis sie Dein Buch zuklappen.
Erlösung: Die Reinheit der Seele
In Horrorstorys können wir unseren Ängsten begegnen und gemeinsam mit den Protagonisten mit ihnen fertigwerden – oder an ihnen scheitern. Aber selbst wenn wir mit dem Protagonisten „sterben“, gehen wir mit einem guten Gefühl aus dem Kino. Wir haben uns der Angst gestellt und überlebt.
Die Theorie der „Katharsis“ („Reinigung“) stammt von dem griechischen Philosophen Aristoteles. Er hat sie in seiner „Poetik“ entwickelt – sozusagen dem ersten Schreibratgeber der Literaturgeschichte.
Laut Aristoteles sollen Tragödien bestimmte „Affekte“, also Emotionen, auslösen: Jammer/Rührung und Schrecken/Schauder.
Indem der Zuschauer diese negativen Affekte im Stück durchlebt, reinigt er seine Seele. Horror ist eine Dusche für die Psyche.
Schone Deine Leser nicht. Lass ihre Lieblingsfiguren durch die Hölle gehen.
Aristoteles sagt übrigens, dass Autoren die Katharsis nicht durch künstliche Effekte wie etwa Musik erzeugen sollen, sondern durch einen geschickten Handlungsaufbau. Plot und Figurenentwicklung sind wichtiger als Score und CGI? Das möchte man 2.500 Jahre nach Aristoteles noch manchem Produzenten mit Rotstift ins Storyboard kritzeln.
Horror lieben: Vier Mal anders
Die vier Erklärungen für die Faszination an Horrorstorys ergänzen sich in manchen Punkten, aber widersprechen sich in den meisten. Kein Wunder, denn Horror ist ein schillerndes Genre. Manche sagen: Horror ist überhaupt kein Genre.
Mach Dir klar, was Deine Leser in Deinem Buch suchen und in welchem Subgenre Du schreibst. Insbesondere, wenn Du Selfpublisher bist und das Marketing in die eigenen Hände nimmst. Wenn Du in Deinen Lesern falsche Erwartungen weckst, wird sich das unmittelbar in der Zahl Deiner Buchverkäufe niederschlagen.
Finde heraus, wie Du Dein Über-Ich beim Schreiben überlistest: Jack Ketchum: Schreibe mit Blut!
Mehr über die verschiedenen Ängste erfährst Du in Stephen King: Die drei Farben der Angst
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2 Gedanken zu „Horror lieben. Teil 2: Rebellen gegen die Vernunft“